History
Die Geschichte des Freien Radios an der Saale
Aus Halle ist eine ostdeutsche Radiometropole geworden. 1999 wurde die MDR – Hörfunkzentrale eingeweiht, von der aus die Radioprogramme nach Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt gesendet werden. Nicht nur, dass sich hier Privatkommerzielle tummeln, diverse Produzenten, Internetradios und weitere Veranstalter haben sich hier angesiedelt.
Und bereits seit Juli 2000 sendet von Halle aus ein Freies Radio.
Mit Radio CORAX ist auch ein unkommerzielles Lokalradio im UKW-Band vertreten.
Die Reichweite des 1 KW-Senders von CORAX auf dem Petersberg nördlich von Halle reicht deutlich über das Stadtgebiet hinaus und schließt unter anderem den Saalkreis und auch Orte wie Köthen, Bernburg und Schönebeck sowie Teile von Dessau, Merseburg oder auch Naumburg ein.
Zu empfangen ist CORAX auf der Frequenz 95.9 MHz und im Internet: www.radiocorax.de.
Die Ursprünge unkontrollierten Funkens
Die ersten Spuren Freien Radios in Halle führen bis in die siebziger Jahre zurück. Damals verbreitete ein Musikliebhaber seine Lieblingstitel von Frank Zappa über einen kleinen UKW-Sender aus Ammendorf im Süden von Halle, heute bekannt als ehemaliger Waggonbau-Standort.
Als vor einigen Jahren der kanadische Konzern Bombardier schon einmal den Standort schließen wollte, begleitete CORAX täglich die Protestaktionen und war fast schon Betriebsradio. Das Ende des letzten größeren produzierenden Unternehmens in Halle kam dennoch Anfang dieses Jahres.
Es wird berichtet, dass Piratenfunke auch in der Innenstadt von Halle präsent waren. Wenige Meter neben dem Ort, an dem heute das MDR-Hörfunkhaus steht, soll gesendet worden sein.
Das neue VL, ehemals in der Kellnerstraße beheimatet, nun in der Ludwigstraße 37, am südlichen Rand der Innenstadt, ist heute Fördermitglied von Radio CORAX und Veranstaltungsort für das jährlich stattfindende interkulturelle Radiofest. Der in der Ludwigstraße ebenfalls befindliche Infoladen gestaltet bei CORAX das politische Magazin „Bewegung“, das sich über die Perspektiven sozialer Bewegungen Gedanken macht.
Im ursprünglichen VL, in der Kellnerstraße, sammelte sich auch ein Teil derer, die 1993 den Radioverein Corax e.V. gründeten. Ziel war u.a. der Betrieb eines Freien Radios in Halle, ein Ziel, das damals ebenso mutig wie illusorisch schien. Einige Redakteure waren dabei von der linken Szenezeitung „Subbotnik in L.A.“, die damals monatlich in Halle herausgegeben wurde und ihren Redaktionssitz im „Reformhaus“ hatte, dem Haus der Bürgerbewegungen in der Großen Klausstraße 11.
Andere frühe Akteure des CORAX-Vereins kamen aus der Amateurfunkbewegung, welche sich in der Wendezeit neu konstituiert hatte. Auch in den 90´er Jahren gab es verschiedene Piratenfunkaktionen, welche beispielsweise die Studierendenstreiks im Wintersemester 1997, das Festival alternativer Medien „Schrägstrich“ 1997 im Volkspark oder auch die Gegenaktionen zum Naziaufmarsch 1998 in Leipzig begleiteten.
Zu diesem Zeitpunkt existierte der Radioverein bereits fünf Jahre. Er hatte seinen ersten Sitz im La Bim, einem Programmkino und selbstverwalteten Kulturzentrum, das noch zwischen Leipziger Turm und Charlottenviertel um seine Existenz kämpft. In der obersten Etage wurde 1994 ein provisorisches Studio eingerichtet. Zum Einsatz kamen private Technik und einige Geräte, die über eine EU-Förderung für ein Kinder- und Jugendradioprojekt erworben werden konnten.
Öffentlich aktiv war der Verein bis 1998 vor allem als Anbieter von Radioworkshops ( oft in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung). Auf politischer Ebene kämpfte man um die Änderung des Rundfunkgesetzes in Sachsen-Anhalt. Diesen Bemühungen allein ist es sicher nicht zu danken, dass Ende 1996 das Gesetz über den privaten Rundfunk in Sachsen-Anhalt novelliert wurde und seitdem in Sachsen-Anhalt nichtkommerzielle Lokalradios (NKL) und Offene Kanäle Fernsehen zulassungs- und förderfähig sind. Aber die schriftlichen Vorschläge von CORAX und die Stellungnahmen im Rahmen von Anhörungen und anderer Anlässe wie auch das zu diesem Zeitpunkt schon erstaunliche Standing eines Radiovereins ohne Frequenz haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet.
Zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung hatte der Radioverein bereits seinen Sitz ins Paulusviertel verlagert. Neues Domizil waren anderthalb Räume im Dachgeschoss des interkulturellen Bürgerhauses in der Uhlandstraße.
Mit Recht On Air
Das Bürgerhaus brachte neue Möglichkeiten und Partnerschaften mit sich. Neben den CORAX-Räumen, die Studio und Büro in einem waren und 1997 noch immer ohne Telefon und Internet auskamen, gab es hier auch einen Bandproberaum. Die Musiker wurden später bekannt unter dem Label Noise Deluxe, gehören heute zu den ambitioniertesten Musikveranstaltern in Halle und haben ihre eigene CORAX-Show. Neben einem Versammlungs- und Seminarraum befand sich im Haus auch ein Saal, der für eigene Veranstaltungen genutzt werden konnte. Das geschah zum Beispiel im Mai 1998, als der Corax e.V. seinen ersten Auftritt als Radio CORAX on air hatte: Für 48 Stunden konnte auf der heutigen CORAX-Frequenz auf UKW 95.9 MHz ein Veranstaltungsradio auf Sendung gehen. Anlass des Veranstaltungsradios war das Paulusfest, ein jährlich stattfindendes Bürgerfest, ein Publikumsmagnet und ein Stelldichein fast aller soziokulturellen Projekte- und Vereine der Stadt Halle. In leeren Kellerräumen der Herderstraße, die früher schon einmal durch eine Audiofirma genutzt worden waren, fand CORAX ein passendes Sendestudio. Aus dem Keller zu senden und in der gesamten Stadt empfangbar zu sein, das faszinierte, und kaum einem CORAX-Sendemacher wird die Herderstraße in unschöner Erinnerung geblieben sein.
Die Rechtsbasis war noch keine dauerhafte, aber sowohl der Radioverein als auch die Medienanstalt Sachsen-Anhalt betrachteten diesen Ereignisrundfunk als erfolgreichen Probelauf für einen späteren NKL-Dauerbetrieb in Halle. Dennoch sollten noch einmal gut zwei Jahre vergehen, bis das Land Sachsen-Anhalt über eine Rahmensatzung für NKL verfügte, CORAX lizenziert war und die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Aufnahme eines Regelbetriebs geschaffen waren.
Am 5.11.1998 erschien endlich im Mitteilungsblatt LSA die Satzung des Landesrundfunkausschusses für Sachsen-Anhalt zu nichtkommerziellem lokalem Hörfunk (NKL-Satzung). Der Haushalt gab das Maß für die Ausschreibung von drei Frequenzen vor, Corax war einziger Bewerber in Halle, doch die Lizenz wurde nicht vergeben, die Entscheidung auf September vertagt. In einer Vorlage, die dem Gremium als Entscheidungshilfe an die Hand gegeben war, wurde „Corax“ bescheinigt, dass „das vorgelegte Sendeschema gut ausgearbeitet ist und tendenziell den Ansatz erkennen lässt, breite Bevölkerungskreise in die Gestaltung des Programms zu integrieren“. Darüber hinaus lagen über 100 Unterstützerinnen- Unterschriften hallescher Vereinigungen, einschließlich des Bildungs- und Kulturausschusses der Stadt, vor.
„… die Idee, ohne Kommerz auf lokaler Ebene Programme zu machen, die jedem freien Zugang ermöglichen und damit auch sozialen Minderheiten ein Podium bieten … sieht Thomas Kupfer nun gefährdet. Für ihn ist die Entscheidung, vorerst keine Lizenz an „Corax“ zu vergeben, nicht hinlänglich begründet. Der Verweis auf fehlende Räumlichkeiten ist für Kupfer nicht stichhaltig. „Erst mit der Lizenz kommen die Fördergelder …“
Bleibt die Hoffnung auf die nächste Sitzung des Landesrundfunk-Ausschusses Anfang September …“Mitteldeutsche Zeitung am 11.8.99
Seit dem Sendestart am 1. Juli 2000 und dem Umzug in den Unterberg 11 im Dezember des gleichen Jahres hat Freies Radio in Halle einen identifizierbaren öffentlichen Ort.
CORAX hat also den Schritt zurück in die Innenstadt gemacht, befindet sich nur Minuten entfernt von den Hauptgebäuden der Universität und vom Marktplatz. Eine konsequente Entscheidung, auch wenn sie im Jahr 2000 nicht unumstritten war. Im Unterberg selbst hat sich das Radio inzwischen weiter ausgebreitet, was zum einen die Anmietung weiterer Räume einschließt, etwa für ein Journalistenbüro. Hier hat heute die Projektgruppe InterAudio ebenso ihren Sitz wie das Festivalbüro von RadioREVOLTEN.
Schon Ende der neunziger Jahre wurde noch ein weiterer Standort für CORAX wichtig: das Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaften der Martin-Luther-Universität, (damals noch eine Abteilung innerhalb des Germanistischen Instituts mit Sitz in Kröllwitz, im Brandbergweg). stand doch eine institutionalisierte Kooperation von Radioverein und Universität zur Diskussion. Bis heute bestehen Arbeitskontakte und spiegeln sich nicht nur in einer Vielzahl von Praktika oder dem am Institut betreuten CORAX-Hochschulmagazin „unimono“ wider. Im Rahmen des RadioREVOLTEN-Festivals ist das Institut als Mitveranstalter des Kongresses „Relating Radio“ involviert. Seinen Sitz hat es inzwischen im Mitteldeutschen Multimediazentrum in der Mansfelder Straße zwischen MDR-Hörfunkzentrale und Saale.
Mit dem Umzug in die heutigen Räume am Unterberg konnte RADIO CORAX einen bis heute anhaltenden Zuwachs an Radio-Aktiven verzeichnen. So wuchs die Zahl der SendemacherInnen von 20 auf über 200. Waren es am Anfang noch 16 Sendungen, so sind es heute bereits etwa 100. Das gestaltete Programm wuchs von 2 Stunden auf etwa 20 Stunden täglich.
In den folgenden Jahren fanden auch über Drittmittel finanzierte Projekte Raum im Unterberg und auf 95,9 MHz. So nahm 2002 INTERAUDIO- die Koordinierungsstelle für Interkulturellen Hörfunk seine Arbeit auf. In Kooperation mit dem Bundesprogramm CIVITAS erarbeitete man Aus- und Weiterbildungsmodelle für MigrantInnen und MitarbeiterInnen nichtkommerzieller Radios zur Förderung von Interkultureller Medienkompetenz, förderte und koordinierte den Austausch innerhalb freier Radios hinsichtlich der Themen Rechtsextremismus, Rassismus, Flucht und Migration, Kultur und internationale Entwicklung. Sowohl hinsichtlich der Ausbildung als auch unter publizistischem Aspekt wird bis heute dem Interkulturellen Hörfunk (mit Schwerpunkt Osteuropa) durch die weiterführenden INTERAUDIO-Projekte (u.a. mit Unterstützung von entimon) eine große Bedeutung beigemessen. So werden auch 2005 und 2006 mehrsprachige Radioworkshops u.a. in Halle und Marburg durchgeführt, die nicht nur darauf zielen, MigrantInnen radiofit zu machen, sondern sie zu befähigen, selbst Radiowissen weiter geben zu können.
Einen wichtigen Schritt ging CORAX auch 2004 mit zwei aufeinander folgenden sublokalen Radioprojekten in Halle-Neustadt, die sich beide an migrantische Communities richteten und das Radio einfach dort platzierten, wo die Akteure wohnen und leben. Austragungsort war zum einen der Bürgerladen im Falladaweg, wo sich zu den Livesendungen und Veranstaltungsterminen zwischen 80 und 100 russischsprachige Anwohnerinnen und Anwohner einfanden, um Aspekte der Integration, das Mit- und Nebeneinander der Sprachen oder Phänomene russischer Kultur in Halle zu erörtern. Kooperationspartner war zum anderen ein kurdischer Klub in Halle-Neustadt. Dort entstand auch eine kurdische Sendung, die bis 2005 ausgestrahlt wurde.
Der Unterberg 11 ist also ein zentraler Ort für Freies Radio in Halle, dient aber vor allem auch als Knotenpunkt für die verschiedensten Interaktionen und Kommunikationen, die oft in Aktionen und Interventionen in anderen Teilen der Stadt münden. Innerhalb von Halle hat sich eine Vielzahl von temporären und dauerhaften Radioorten herausgebildet. Einzelne Schulen etwa, die über einen bestimmten Zeitraum hinweg die Arbeit der Kinderredaktion „Grünschnabel“ besonders tragen oder Partner für spezielle Projekte werden, beispielsweise die Hegel-Schule in der Albert-Schweitzer-Straße oder die Montessouri-Schule in den Franckeschen Stiftungen. Das Schülerradio „lubra“ ist in den Stadtteilen Südstadt und Silberhöhe verankert. Außerdem produziert mindestens die Hälfte der Redaktionen zu Hause oder in Studios außerhalb des Unterbergs. Anderenfalls wäre das Radio völlig überlastet.
Die CORAX-Redaktionskonferenz dient als öffentlicher Anlaufpunkt und manchmal auch Streitort, mehr noch tut dies das CORAX-Internetforum. Tagsüber findet sich im Unterberg 11 manchmal trotz der 300 qm Nutzfläche kein freies Plätzchen, und am späten Abend gleicht das Radio oft einem Jugendklub. Auch als Veranstaltungsort für das CORAX-Sommerfest, Film- und Diskussionsreihen wird der Unterberg 11 nach außen hin als Standort von Radio CORAX sichtbar gemacht.
CORAX verfügt seit einigen Jahren über eine eigene Liveredaktion, die für Übertragungen und Aufzeichnungen immer wieder neue Orte für das Radio erschließt. Dafür stehen in den vergangenen Jahren etwa die Kaffeefabrik und das Capitol im Süden, das Soziokulturelle Zentrum Pusteblume in Halle-Neustadt, die Peißnitzinsel oder auch das selbstverwaltete Kulturzentrum in der Reilstraße 78, am Übergang zum Stadtteil Trotha im Norden. Mit eigenen Veranstaltungen war das Radio in zahlreichen Hallenser Klubs und Theatern vertreten, etwa im Turm, im VL, im La Bim, in der Theatrale, im Thalia Theater oder auch im ehemaligen Puppentheater im Mühlweg. Umgekehrt wurden Projekte vom neuen theater oder vom Thalia Theater on air begleitet. CORAX-DJs legen regelmäßig in der Chaiselongue, im Zwöö-Klub, im Turm, im Volkspark, in der Palette oder auch im Merseburger Reaktor auf, umgekehrt sind nicht wenige DJ-Crews und Musiker selbst Veranstalter und zugleich auch mit eigenen Sendungen im CORAX-Programm vertreten. Eine Zeitlang pflegte der Radioverein den Brauch, seine Mitgliederversammlungen jeweils an wechselnde quasi-öffentliche Orte zu verlegen. So hatten u.a. die Marktwirtschaft, der Jugendtreff Orangerie, das Objekt 5 und viele andere das manchmal zweifelhafte Vergnügen, zum Austragungsort intensiver Debatten um Programmstrukturen und –inhalte, um den Umgang mit den knappen Ressourcen oder das politische Profil des Radios zu werden.
Dieser Aspekt der Vernetzung trifft erst recht zu auf die Online-Präsentationen Freien Radios, die neben den CORAX-verbundenen Angeboten von www.radiocorax.de, www.interaudio.org, www.radiorevolten.net oder www.medienost.de auch noch das in Halle produzierte Webradio GARAGE umfassen. Zahlreich sind auch die online-Aktivitäten einzelner CORAX-Redaktionen.
Radio Corax ist seit seiner Gründung zu einem der größten soziokulturellen Projekte in Sachsen-Anhalt, der größte Ausbildungsträger im Bereich Hörfunk und das größte nichtkommerzielle Medium im Land geworden.