Zwanzig Jahre Obscene Extreme in Trutnov/CZ und fünfzig Jahre Burg Herzberg-Festival/Hessen – eine Hommage an das lustigste und das schönste Festival 2018
Zum 20sten Mal öffnete das Obscene Extreme Festival in Tschechien seine Pforten und die Fans der härteren Musik ließen sich nicht lange bitten und strömten aus aller Herren Länder herbei. Auf einem großen Flatscreen links neben der Bühne waren die Länder der Besucher vermerkt, aus denen sie stammten. Wer seines nicht darunter fand, konnte sich am Einlass noch mal zusätzlich registrieren lassen.
Obwohl auch schon das Line Up höchst international aus allen Kontinenten besetzt war, waren am Ende 46 (!) Länder der Grindcore- und Deathmetal-Community aufgelistet. Absolut rekordverdächtig, denn das kleine Nischenfestival zieht nur etwa 3000 bis 4000 zahlende Gäste der zutiefst eingeschworenen Gemeinschaft an. Genau genommen ist das Obscene auch nur ein Open Air, denn es existiert nur eine Amphitheaterbühne, die indes bei der vergleichsweise geringen Besuchermenge völlig ausreichend ist.
Für Uneingeweihte: Grindcore und Deathmetal sind neben Speed- und Thrashmetal so ziemlich mit das Härteste und Schnellste, was der Metalbereich an Subgenres zu bieten hat, und keinen interessiert es dabei, dass der brachiale Sound des öfteren die begrenzten musikalischen Fähigkeiten der Protagonisten überdeckt, denn nicht zuletzt zählt beim Grindcore die Show. Klare Sache, dass die Zahl der Jünger, die sich auf den Weg in das kleine und ansonsten etwas verschlafene Städtchen am Rande des Riesengebirges machen, überschaubar bleibt. Diese sind dafür jedoch oft an Schrägheit kaum zu überbieten. Vor allem die etwas Jüngeren wirken dabei nicht selten wie handverlesen. Viele Obscene-Gänger lieben die Kostümierung und so erblickt man, wohin man seine Augen auch richtet, im Sekundentakt die schrillsten Gestalten: einen Weihnachtsmann, Kater Sylvester, Aliens, einen beleibten, bärtigen, langhaarigen Typen in einem Mankini, Tatortreiniger, Kerle in Ballkleidern, Mädels im Frack, Ganzkörperanzüge jeglicher Art und Kombinationen von allem Möglichen und Unmöglichen. Wer auffallen möchte, muss sich verkleiden oder tüchtig stylen – nur mit Leder, langen Haaren, Tattoos, gerne auch großflächig, sticht man hier nicht heraus.
Am späten Donnerstagnachmittag kommen wir, vier an der Zahl, in Trutnov an. Die Straßenränder in der Nähe des Geschehens sind bereits zugeparkt und auch die Grünflächen der beiden benachbarten Tankstellen wurden schon von Zelten gekapert. Wir bevorzugen einen der offiziellen Campingplätze und zahlen gerne die moderaten Gebühren. Schnell sind die Zelte aufgebaut, denn es zieht uns zum Musikgelände, dessen Klänge man bis hierher hört. Etwa zehn Minuten Fußweg sind es bis zum Einlass und dann betritt man ein Areal mit respektabler Fressmeile, geräumigen Bierzelten mit verschiedenen tschechischen Brauereierzeugnissen, Discoanlage und Flatscreens, großer Toiletten- und Duschanlage sowie einer kleinen Halle für das Merchandising. Ein paar Meter weiter und man steht vor der Bühne, auf der ständig, nur von kurzen, ca. zehnminütigen Pausen unterbrochen, die Hölle los ist. Wir ziehen Sitzplätze im oberen Drittel des Amphitheaterrundes vor, nicht zuletzt auch deswegen, weil dort oben ebenfalls diverse Bier- und Cocktailstände sowie eine Händlermeile zu finden sind. Auch hat man von oben eine bessere Sicht auf das schillernde Panoptikum. Zwei, drei Bands später ist es dann soweit – die tschechischen Lokalmatadoren und Publikumslieblinge von Glutalax entern die Bühne und sogleich bricht ein aberwitziger Begeisterungssturm los, dass einem unvorbereiteten Obscene-Debütanten Mund und Augen offenstehen dürften (siehe Youtube: Obscene 2018 Glutalax).
Die Sicht auf die Band ist derweil meist verdeckt, denn es ist gute Tradition beim Obscene, dass sich stets eine größere Anzahl von Metalheads, ob verkleidet oder nicht, gern auf der Bühne aufhält, bevor es dann mal irgendwann ans Stagediven geht. Die Security ist mehr und mehr am resignieren, lässt dem harmlosen Treiben aber dann seinen Lauf. Unten werden aus dem furiosen Inferno pausenlos irgendwelche Schwimmtiere in die Luft geschleudert. Auch das bunte Gummigetier, das scheinbar mehr oder weniger zeitgleich in der Luft umherschwirrt verdeckt extrem die Sicht, was jedoch überhaupt nicht stört, sondern im Gegenteil extrem lustig ist. Mit einem Dauergrinsen versuche ich, die Gummiteile zu sortieren. Im Laufe des Festivals sind immer mal wieder zu sehen: drei blaue Delphine, ein silberner Delphin, ein Papagei, zwei Krokodile, diverse Wasserbälle und Schwimmreifen, zwei Poolnudeln, zwei Luftmatratzen, zwei Planschbecken, eine Schildkröte, eine große Torte und wer weiß, was noch. Ein explosiver Kreisel, dar bei vielen Bands dort unten tobt, und wehe dem, der unbeabsichtigt in diesen Malstrom gerät – er würde sofort mitgerissen werden. Aber ohneAbsicht passiert hier bei diesen ausgetickten Typen sowieso nichts. Hier regiert der schiere Übermut. Wir malen uns weinende Kinder im Freibad aus: „Mama, ich möchte auch einen Delphin haben!“ – „Die gibt es gerade nicht, sind ausverkauft.“ Beim nächsten Obscene werde ich jedenfalls ein Schwimmtier spenden und in den Höllenschlund werfen. Hineinbegeben werde ich mich nicht.
Die Konzerte gehen bis weit in die Nacht, darüber hinaus gibt es Spezialvorstellungen und Filmvorführungen. Wer möchte, kann die Nacht in den Bierzelten ausklingen lassen. Das Publikum ist auch hier sehr international und es ergeben sich oft interessante Gespräche. Die Preise sind human, auf dem Gelände sind Bonkassen verteilt. Ein Bon kostet 35 Kronen, das entspricht umgerechnet ca. 1,40 Euro. Dafür bekommt man 0,5 Liter Pivo, für diverses Essen muss man etwa drei bis vier Bons hinlegen. Zu vorgerückter Stunde wird der DJ bzw. die DJane langsam aktiv und erstaunlicherweise findet die Grindcore- und Deathmetal-Community auch an Techno und internationalen Discohits Gefallen. Erst früh bin ich im Schnarchsack und schlafe etwas länger, während die Kumpels einen Spaziergang in die Stadt unternehmen, wenigstens einmal Knödel essen. Zwei von uns waren schon vor Jahren etliche Male beim Obscene. Früher war es ähnlich lohnenswert, nur wenig hat sich verändert. Zum Beispiel, dass nun auch Zelte in die Stadt vordringen („Uups, in unseren Vorgarten zelten welche!“). Auch mögen es vor zehn Jahren noch etwas weniger Fans gewesen sein, dafür hat es an Wildheit und Ausgelassenheit noch ein wenig zugelegt.
Hauptact dieses Jahr sind zu später Stunde die britischen Überväter der Szene – Napalm Death. Da ist das Auditorium zum ersten Mal proppenvoll gefüllt, aber diese kultige Band sieht man ja auch nicht alle Tage. Diesmal ist bei mir leider beizeiten Schicht. Ich bin knallmüde, denn letzte Nacht war es schon wieder eine Weile hell und die Natur fordert ihren Tribut. Die Belohnung für das zeitige Zubettgehen ist ein zünftiger Frühschoppen, bei dem man die letzten mehr oder weniger Aufrechten der vergangenen Nacht bestaunen kann. Einen hat es jedoch noch an Ort und Stelle hingemetert. Er rüsselt friedlich auf dem blanken Boden im Bierzelt-Siff, nicht ohne dass ein wohlgesonnener Samariter vor ihm eine selbstgemalte Essenpappe „Take a photo for one bon. Thanks!“ hingestellt hat.
Schon beizeiten rocken die ersten Bands das Auditorium. Ein wild gewordener Kater Sylvester tobt auf der Bühne hin und her und hält eine Megapackung Kellogs Cornflakes ins Publikum und in die Kamera des Flatscreens. Wenig später wird sich ihr Inhalt in einem meterhohen Riesenschwall in den Moshpit ergießen. Währenddessen galoppiert ein Drachenreiter mit Stetson auf die Bühne und tigert dort für einige Titel herum. Seine Beine sind im Tier versteckt, die künstlichen außen und er hält das Urviech streng an der Kandare. Der Kopf des Drachens wackelt im Takt von einer Seite zur anderen. Er möchte den Cowboy abwerfen, schafft es aber nicht. Das Ganze ist wieder zum Brüllen komisch. Am Abend sehe ich den Reiter samt Untersatz in einem der vielen Händlerzelte für diversen Fanbedarf. Wahrscheinlich ist auch er ein Händler, der sich am Vormittag nur mal ein bisschen austoben wollte.
Am Sonntag ist für uns leider schon Abreise, obwohl dann noch eine After-Show-Party stattfindet, die zwar extra kostet, aber noch mal einige Bands und anschließende Disco bis in den Morgen bereithält. Aber auch so waren es drei verrückte und einzigartige Tage und wir sind uns sicher, dass wir bestimmt mal wieder hier aufschlagen.
Von deutlich anderer Art ist das Burg Herzberg Festival im hessischen Vogelbergskreis, das seit 1968 besteht und sich laut Eigenwerbung als Mutter aller deutschen Festivals und Europas größten Hippie-Event versteht. Das Herzberg bietet ein einzigartiges Flair, welches über die Jahrzehnte gewachsen ist und, wenn man den Berichten derer glauben mag, die sich ein vergleichendes Urteil erlauben können, aus der Masse der Festivals heraussticht. Wenn man beizeiten anreist, das heißt also Dienstagvormittag, kann man sich noch aussuchen, wo man zeltet. Das empfiehlt sich insbesondere dann, wenn man eine größere Gruppe wird und eine Wagenburg plant. So kommen Ulf und ich als Vorhut hinter den Händlern in unmittelbarer Nähe zum Musikgelände der Hauptbühne zu stehen und haben dank einiger Bier und freundlichem Fragen Strom – ein Umstand, der sich bei der diesjährigen Witterung schnell bezahlt macht. Unsere große Bauplane ist schnell gespannt und die zusätzlichen beiden ausgebreiteten Alibizelte stecken unseren Claim weiter ab. Ein kurzer Rückblick: letztes Jahr trafen wir es nicht so gut. Obwohl wir auch dort zeitig vor Ort waren, standen wir elf Stunden in der Schlange, bis wir endlich an den Haken kamen und wie alle anderen auch wegen des tagelangen Dauerregens von einem schweren Traktor auf einen „Neue Heimat“ bezeichneten Stoppelacker geschleppt wurden.
An unseren bevorzugten Stellplatz auf dem anderen Gelände namens Freak City war da schon lange nicht mehr zu denken. Konsterniert sahen wir das Dilemma: überall Morast und tiefe, mit Wasser gefüllte Spurrinnen, von einigen Schein-werfern spärlich beleuchtet. „Hier kann man doch kein Zelt aufbauen, da können wir uns ja gleich in die Pfütze legen“, sagte ich zu Ulf. Von weiter hinten hörte ich rufen: „Scheiße, durch mein Zelt fließt ein Bach!“ Aber was sollte es. Wir legten die Bauplane zweimal zusammen und stellten darauf Ulfs Wurfzelt. Mein Iglu aufzubauen wäre bei diesen Schlammmassen der reinste Krampf geworden. Was blieb uns auch Walter Ulbricht? Als alter Herzberger ist man Wetterunbilden schließlich gewohnt. Später wird man mir von steckengebliebenen Stoßstangen und einem Typen berichten, der von innen seine Autotür nicht mehr öffnen konnte – so tief war er in der Modderpampe versunken.
Dieses Jahr jedenfalls meint es das Schicksal gut mit uns. Die Kühlbox ist angeschlossen, der CD-Player läuft und zwei der acht Bierkästen stehen im Schatten. Diese Menge ist tatsächlich nötig. Erstens muss man ja viel trinken bei der Affenhitze und zweitens möchte man etwas zum Anbieten haben, wenn Besuch kommt. Da man im Laufe vieler Jahre die eine oder andere Clique kennengelernt hat, freut man sich schon drauf. Eine gute Herzberg-Tradition, die gegenseitigen Besuche. Zum Beispiel bei den Karlsruhern, zwei Zelte weiter. Diese kennen wir auch schon seit ca. zehn Jahren, als wir mal direkte Nachbarn waren. Mit etwa zwanzig Leuten sind sie eine ähnlich große Meute wie das „Gurkenzelt von Rock im Spreewald“. Wir warten, bis es früher Abend wird, dann wollen wir unseren Kumpels aus Bad Schandau, die ebenfalls jedes Jahr ein großer Haufen sind und ihr Lager mit Absicht in der Neuen Heimat haben, einen Antrittsbesuch abstatten.
Am nächsten Morgen gibt es schnell ein Reparierbier, bevor es wieder zu den Sachsen zum Frühschoppen geht. Heute werden dann die nächsten von uns kommen, bis wir dann am Donnerstag mit neun Leuten komplett sind. Gegen Mittag mache ich mich auf den Rückweg, um die Jungs in Empfang zu nehmen. Am „Checkpoint Charlie“ zur Freak City überhole ich einen größeren Pulk, der nicht aus der Hüfte kommt. Plötzlich werde ich aus der Distanz von einem Ordner mit einer Spritzpistole beschossen. Augenblicklich nehme ich meine umgehängte Pumpgun zur Hand und erwidere mit dem Ruf „Hände hoch oder ich erschieß mich!“ das Feuer. Belustigt wird das Scharmützel verfolgt und nach dem kleinen Grabenkampf wollen einige ebenfalls eine erfrischende Dusche abhaben. Sehr verständlich, denn es brütet ohne Ende. Hier am Checkpoint ist allnächtlich Jeff Silvertrust zu erleben. Der Amerikaner ist eine One-Man-Band und ein Ereignis, wenn er mit Melone und Schnauzbart auf einem Kinderkeyboard, etwas Schlagwerk und mit verbeulter Trompete internationale Hits veräppelt. Das dankbare Publikum liegt ihm lachend zu Füßen.
Mittwochs spielen bereits die ersten Bands. Die Freak City wird von einem Boulevard genannten, sehr breiten Weg durchzogen, von dem die einzelnen Gassen abzweigen und der von Bühnen, Händlern, Fressbuden und Attraktionen aller Art gesäumt wird. An seinem oberen Ende hat sich seit einigen Jahren der „Höllenschuppen“ etabliert – eine Bühne auf der unbekanntere Bands ohne Gage spielen, die es sich aber als Ehre anrechnen, überhaupt auf dem „Berch“ aufzutreten. Der Weg dorthin bietet vielerlei Zerstreuung. Auch die Herzberger sind ein buntes Völkchen, nur nicht ganz so durchgeknallt. Doch coole Typen und Bräute sieht man auch hier und auch hier geht es sehr international zu (wir hatten schon Schweden und Franzosen als Nachbarn), und vom Alt-68er (hier gibt es sie noch) bis zum Wickelkind ist alles vertreten. Nonkonformismus wird gerade auf diesem Festival groß geschrieben. Sei es vom Aussehen, der persönlichen Einstellung und/oder Lebensentwurf her. Das spürt man an jeder Ecke. Der Mainstream vieler anderer Festivals ist hier so selten wie heißer Orangensaft. Das überträgt sich auch auf die Region. Viele Vogelberger fiebern dem nächsten Fest entgegen und tragen auf irgendeine Art zum Gelingen bei. Schönes Beispiel: als im letzten Jahr der Berg fast abgesoffen wäre, gab der Bürgermeister der Nachbargemeinde Breitenbach kurzerhand das örtliche Campinggelände samt Einrichtungen kostenlos frei, ohne sich groß um Vorschriften zu scheren. Zu Beginn bis Mitte der 90er fand das Burg Herzberg-Festival noch auf und an der gleichnamigen in Privatbesitz befindlichen Burg statt. Vielleicht auch nicht ganz selbstverständlich. Als es dann aus allen Nähten platzte, zog es 1997 auf das heutige, den Rest des Jahres landwirtschaftlich genutzte Gelände um. So ist die Freak City ansonsten Pferdekoppel. Hatte man Glück, konnte man in den vergangenen Jahren hin und wieder den Burgherren, einen freundlichen, älteren Herren, auf dem Gelände sehen. Seit den letzten Jahren nun ist das Festival auf 12000 Besucher begrenzt, trotzdem können es auch schon mal noch mehr werden. Wir sind also auf dem Boulevard unterwegs und schon jetzt gewinnt man den Eindruck, das Festival sei bereits in vollem Gange. Doch erst am morgigen Donnerstag fällt der offizielle Startschuss. Neben dem Höllenschuppen gibt es die sogenannte Mentalstage, das Lesezelt (beim Poetry Slam vor zwei Jahren warf auch ich meinen Hut in den Ring) und schließlich die Freakstage, auf der dann auch die größeren Bands spielen. Weiterhin gibt es ein Technozelt, ein paar Meter weiter einen weiteren Dancefloor sowie einen als Bühne für spontane Liedermacherauftritte umfunktionierten Lkw-Anhänger. Aber auch so kann jeder, der mag, sich mit seiner Wandergitarre oder auch als Band an irgendeine Ecke stellen und loslegen. Selbst an die Kleinsten ist gedacht: für die Betreuung der jungen Festivalbesucher mit allerlei Bespaßungen und Spielen wird im Kinderland bestens gesorgt, während sich die erschöpften Eltern am gemütlichsten in der „Bar jeder Sinne“ in Sesseln und ausrangierten Sofaecken ausruhen können. Alles ist großzügig und kunterbunt illuminiert und lauter interessante Gerüche von verschiedensten Räucherstäbchen, u.a. Patchouli und Weihrauch wabern durch die Luft. Viele Schallplattenhändler bieten ihre besten Schätze zum Verkauf und überbieten sich mit dröhnenden Sounds. Überhaupt der Herzberg-Sound: von jeder Bühne, vielen Händlerständen, Musikzelten und Wagenburgen sind Melodiefetzen und Beats zu hören – eine einzigartige Kakophonie, wie man sie hier und nur hier in diesem Umfang erleben kann. Überall wuseln die Herzberger herum und auch, wenn manchem das Festival mit 12000 Besuchern schon zu groß erscheinen mag, hat man nie das Gefühl der Enge, selbst vor der Freak- und der Mainstage nicht. Diese wird am Donnerstag freigegeben und wer als Erstbesucher schon von den bisherigen Eindrücken überwältigt war, bekommt hier noch mal eine Regimentskelle obendrauf. Was schnell auffällt, wenn man direkt an Bierstand, Merchandising und Reglerturm zur Bühne geht, ist der druckvolle, aber dennoch verblüffend glasklare, austarierte Sound. Dafür sorgt Bühnentechnik von L-Acoustics, einer 1984 gegründeten französischen Hightechfirma, die sich der Herstellung von Lautsprechern, Verstärkern und Signalverarbeitungsgeräten verschrieben hat und deren Soundsystem K1, das hauptsächlich für große Festivals und Stadion-Beschallungen entwickelt wurde, Maßstäbe auf diesem Gebiet setzt.
Das Gelände der Hauptbühne wird nach einer mehr oder weniger nachlässigen Einlasskontrolle betreten. Hier hat man bewusst auf eine professionelle Security verzichtet und setzt lieber auf einheimische Freiwillige, die dafür auch nicht so martialisch rüberkommen. Das dreieckige Areal bietet auf der einen Seite Fressstände mit zum Teil internationaler Küche, die neugierig macht, sowie diverse Getränkeanbieter. Alte Bekannte sind da „Matsch und Brei“, die jedes Jahr ihren Äbbelwoi von hessischen Streuobstwiesen anbieten, aber auch Klosterbier und anderes ist im Angebot und das ist gut so, denn das Alsfelder Bier vom Stand mitten auf dem Gelände gehört nicht unbedingt in die erste Liga. Nähert man sich der Bühne von der anderen Seite, schlagen sicherlich die weiblichen Herzen höher.
Hier findet man eine breite Palette an bunten und ausgefallenen Klamotten, die es sogarantiert nicht in den Konsumtempeln oder im Internetversand gibt. Daneben locken Kunstgewerbe, abgefahrener Schnickschnack und Schmuck den zahlungswilligen Kunden. Will man nicht stöbern, futtern oder vor der Bühne stehen, laden zahlreiche Bierzeltgarnituren unter ausladenden Schirmen zum verweilen ein. Da das Gelände leicht abschüssig ist, tut dies der Sicht auf die Bühne keinen Abbruch. Spätestens hier kommt man in interessante Gespräche und ein Anknüpfungspunkt ist immer gegeben. Zum Beispiel ist oft die Frage nach der Herkunft zu vernehmen, da sich auf dem Berg alle „deutschen Stämme“ treffen. Die Dialektvielfalt ist unglaublich und sicher nur mit Mega-Events wie Wacken oder Rock am Ring zu vergleichen.
Ein besonderes Highlight werden wieder Orange aus dem Allgäu sein. Wer bei ihren hypnotischen Beats nicht irgendwann tanzt oder wenigstens rhythmisch wippt, muss ein ungehobelter Klotz sein. Wer die Band um Rainer von Vielen mal live erlebt hat, zum Beispiel auf dem diesjährigen viertägigen und auf vier Bühnen stattfindenden halleschen Peißnitzhaus-Festival, weiß, wovon ich rede.
Unser Standplatz liegt dieses Jahr so günstig wie seit drei Jahren nicht mehr. Ist die Band auf der Hauptbühne vorbei, sind wir ratzfatz in unserer Wagenburg und tanken nach. Darüber hinaus sind wir akustisch immer bestens informiert, ob sich die Freak oder Main lohnen, obwohl der sehr informative Festivalplaner und die gut gepflegte Website schon vorab vielfältiges Interesse wecken. Noch kürzer ist es bis zur „Kreuzung“, an der die Freak- und Mentalstage, die „Bar jeder Sinne“ sowie die Discozelte zu finden sind und der Weg hinüber zur „Neuen Heimat“ beginnt. Morgen wird uns von dort unser Kumpel Jenser aus Bad Schandau zum Frühschoppen besuchen kommen. Er möchte dann mit mir zu Peter Burschs Gitarrenkurs pilgern. Peter Bursch, bekannt mit seiner Band Bröselmaschine, die dieses Jahr mal wieder spielen, Herausgeber vieler Gitarrenbücher und Gitarrenlehrer der Nation, gibt jedes Jahr auf dem Berg sonnabends um die Mittagszeit einen einstündigen Anfängerkurs. Traditionsgemäß bin ich mit meiner Aufpusteklampfe dabei, ein T-Shirt von Tokio Hotel oder dieses Jahr Justin Bieber an. Gut, dass ich dieses Jahr zwei Luftgitarren dabei habe. So sind wir zu zweit und posen etwa nur eine Minute direkt vor der Bühne. Wir wollen Peter ja nicht die Show stehlen, aber trotzdem wahrgenommen werden. Am Ende unserer Einlage stelle ich ihm wie immer ein eiskaltes Bier auf den Bühnenrand. Peter grinst mich wie jedes Jahr aus den Augenwinkeln an, lässt sich aber nicht beirren. Auf der Wiese sitzen viele Zuschauer und ca. 60 Eleven in der prallen Sonne und üben den F-Akkord. Als sie unser gewahr werden, gibt es hier und dort fröhliches Gelächter und schon sind wir wieder weg. Auf dem Rückweg komme ich mit einem Nachwuchs-Herzberger, der zwei Eimer Wasser schleppt, ins Gespräch und richtig – der junge Mann hat, wie vermutet, vor, darin sein Bier zu kühlen. Leider im Physikunterricht nicht aufgepasst. Ich kläre ihn über den kurzen Wärmeaustausch, der stattfinden wird, auf und empfehle ihm die Verdunstungskälte. Die Pullen auf die Wiese, am besten ein Geschirrhandtuch drüber und ständig nass halten. Das entzieht permanent Wärme und der Kühleffekt ist in der Tat beeindruckend. Wenn man unter der Dusche vorkommt, fröstelt man ja auch. Eine solche hätte ich dringend nötig. Die Kumpels fahren an drei Tagen baden, dazu habe ich aber keine Lust, hätte auch ein Hammerkonzert verpasst. Wenn wir unter unserer Plane verschmachten, spritzen wir uns mit einer Pumpgun oder Sprühflasche hin und wieder nass. Der Staub tut sein übriges. Ich sehe völlig verwahrlost und keimig aus, freue mich mittlerweile auf die heimische Badewanne. Auf der Rückfahrt wird Ulf für mich an einer Tankstelle Zigaretten kaufen müssen, da ich nicht mehr zivilisationsfähig bin. Auf eineSache lege ich aber Wert. Eine relativ frische Handverletzung zwingt mich zu Verbandswechseln. Wie gut, dass es die Malteser aus Fulda gibt, die in ihrem großen Krankenzelt unentgeltlich Dienst schieben. Aquavit haben sie zwar nicht im Angebot, dafür aber freundliche und kompetente Hilfe, die ich dreimal in Anspruch nehme.
Ich freue mich bereits auf das dicht umlagerte Technozelt. Die gestrige Nacht hatte ich dort zum Tage gemacht. Auf harten Techno fahre ich ziemlich ab und bin total geflasht, als ich im DJ den von vor zwei Jahren zu erkennen glaube. Zuhause fallen mir spontan nur zwei Schuppen ein, das Bronson und das Hühnermanhattan, in denen guter Techno gespielt wird. Aber als schon etwas in die Jahre gekommener Partysan halte ich beim Techno dort lieber nicht meine Nase rein – ich würde nur wie ein Fremdkörper wirken. Hier aber bin ich nicht der einzige ältere Zausel und falle nicht weiter auf.
Sonntag ist Frühschoppen bei den Bad Schandauern angesagt, aber nur Ulf macht sich auf den Weg. Ich bin zu lethargisch und meine Stimmung ist nicht die beste, wenn ich an den morgigen Abreisetag denke. Das wird noch mal ein Akt – alles abbauen, verstauen, unser „Wohnzimmer“ aufräumen, dass auch nicht eine einzige Kippe und kein Stöpsel liegenbleibt, die ein Pferd vom ansässigen Hof Huhnstatt versehentlich fressen könnte. Dann muss vor der Rückfahrt noch das ganze Leerböse zur Alsfelder Getränkequelle gebracht werden inklusive drohender Polizeikontrolle.
Aber noch ist Sonntag und später am Abend werde ich mal wieder ein junges Pärchen bemerken, das Arm in Arm leicht weinend völlig in sich versunken ist, weil sich ein schönes Fest mal wieder dem Ende zuneigt.
Aber wie man sagt so geläufig: nach dem Festival ist vor dem Festival. Es wird dann mein einundzwanzigster Berg sein.
Stolle (Rockparade)