Schulstreik gegen Wehrdienst in Halle

Am 5.12. stimmte der Bundestag mit 323 Stimmen für das neue "Wehrdienst-Modernisierungsgesetz" von der Bundesregierung. Der Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zeigte sich stolz mit den Worten: "Dieses Land, diese Demokratie verdient es." Mit dem Gesetz werden alle mindestens 18-jährigen 2026 Musterungsbriefe erhalten. Diejenigen, die bei ihrer Geburt als männlich bestimmt wurden, müssen den Brief ausfüllen – als Frauen markierte nicht. Die Musterung führt zunächst zu keiner Zwangsrekrutierung. Stattdessen werden Anreize geschaffen, um die jungen Erwachsenen von einem freiwilligen Wehrdienst zu überzeugen.
Doch auf den Straßen von etwa 90 deutschen Städten zeigten tausende Menschen im Rahmen von einer bundesweiten Schulstreik-Kampagne ihren Unmut darüber. Am Wochenende folgten in Hannover und Kassel außerdem Angriffe auf militärische Infrastruktur. In den beiden anonym veröffentlichten Bekennerschreiben beziehen sich die vermeintlichen Angreifer:innen explizit auf die bundesweiten Schulstreiks und das neue Wehrdienstgesetz.
Am 19. Dezember soll der Bundesrat über das neue Gesetz entscheiden. Im Beitrag hört ihr Stimmen von Jugendlichen und warum die Wehrpflicht jetzt, 14 Jahre nach der Aussetzung, wieder möglich ist.

Verwendete Quellen für den Beitrag:
https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2011/33831649_kw12_de_wehrdienst-204958
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wehrdienstgesetz-abstimmung-100.html
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/wehrpflicht-debatte-100.html
https://de.indymedia.org/node/558609
https://www.tagesschau.de/inland/bundeswehr-bewerbungen-100.html

https://de.indymedia.org/node/558886

https://www.tdh.de/informieren/themen/bundeswehr-an-schulen
https://www.youtube.com/watch?v=e-uk1LJRvC4

Ausführliches Feedback eines Vereinsmitglieds zum Beitrag:
Es ist selbstverständlich angemessen im tagesaktuellen Programm von Corax über den Schulstreik gegen die Wehrpflicht in Halle zu berichten, aber leider wird das in diesem Beitrag wieder völlig unkritisch getan und dabei einerseits nicht auf die Hintergründe der organisierenden Gruppen hingewiesen und andererseits auch nicht darauf, dass es zwei verschiedene Demonstrationen zu diesem Thema am gleichen Tag in Halle gab, die von verschiedenen Gruppen organisiert wurden. Das würde aber sowohl zu einer Berichterstattung gehören, die der journalistischen Sorgfaltspflicht entspricht, als auch zu einer kritischen Berichterstattung, wie sie Corax entsprechend seiner eigenen journalistischen und medienpolitischen Grundsätze, im Sinne der Förderung emanzipatorischer Prozesse für sich beansprucht. Die Umsetzung dieses kritischen Anspruches ist aber immer abhängig von denjenigen, die das redaktionell ausführen, und da fehlt es offenbar hinsichtlich der Aktivitäten von roten Gruppen immer wieder an einer kritischen Perspektive.

Am 5. Dezember gab es eine Demonstration, die um 15 Uhr am Riebeckplatz startete und von der Linksjugend ['solid] Sachsen-Anhalt und dem SDAJ Halle organisiert war, und eine zweite Demonstration, die um 17 Uhr am Steintor startete und von der Internationalen Jugend Halle und dem Solinetz Halle organisiert war, die beide zur Föderation klassenkämpferischer Organisationen (FKO) gehören und Vorfeldorganisationen des Kommunistischen Aufbaus (KA), einer stalinistischen, autoritär-kommunistischen roten Gruppe, sind. Weitere Infos hier, hier und hier.

Im dem Beitrag wurden Interviewausschnitte der Internationalen Jugend, des Solinetz und des SDAJ verwendet, ohne auf die zwei verschiedenen
Demonstrationen einerseits und die Hintergründe der organisierenden Gruppierungen andererseits hinzuweisen. Auch der SDAJ ist zu den autoritär-kommunistischen roten Gruppen zu zählen, da er als Jugendorganisation der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), ebenfalls einem Marxistisch-Leninistischen Weltbild folgt.

Die DKP, die bis 1989 von der DDR gesteuert war und deren Jugendorganisation der SDAJ ist, unterhielt von 1969 bis 1989 eine geheime Militärorganisation, die von der DDR ausgebildet und mit Geld, Waffen und Sprengstoff versorgt wurde.
Die Linksjugend versteht sich zwar selbst als basisdemokratisch, aber wenn sie mit einer autoritär-kommunistischen Gruppierung, wie der SDAJ eine gemeinsame Demonstration veranstaltet, muss sie zumindest für diese Zusammenarbeit kritisiert werden und nach der Motivation dafür gefragt werden.

Werden diese Hintergründe einbezogen, dann verändert sich die Perspektive auf diese Demonstrationen vollkommen, denn der reale Kommunismus der Sowjetunion und der DDR, auf den sich diese Gruppen theoretisch ausdrücklich beziehen und zu dem sie historisch in einer Kontinuität stehen, war überhaupt nicht anti-militaristisch, sondern ganz im Gegenteil äußerst militaristisch. In der DDR gab es eine Wehrpflicht von 1,5 Jahren, ohne die Möglichkeit der Verweigerung oder eines Zivildienstes. Der Militarismus und die Wehrerziehung begann schon in der Schule, mit Wehrunterricht in der 9. und 10. Klasse, einem zweiwöchigen Wehrerziehungslager für Jungen und einem Lehrgang in Zivilverteidigung für Mädchen in der 9. Klasse und der Fortsetzung der vormilitärischen Ausbildung während der Berufsausbildung und in der Abiturstufe der Erweiterten Oberschulen. Ausserdem gab es
paramilitärische Massenorganisationen in der DDR: die Kampfgruppen und die Gesellschaft für Sport und Technik (GST).
In der Sowjetunion war die Situation ähnlich, denn nach ihrem Vorbild wurde ja die DDR eingerichtet. Auch dort gab es eine riesige Armee (die zahlenmäßig größte der Welt) mit Wehrpflicht und ohne Recht auf Verweigerung, Wehrerziehung und paramilitärische Organisationen.
Außerdem gab es eine vehemente Aufrüstung und einen gigantischen Militärisch-Industriellen Komplex, der 1985 49% des Staatshaushalts und
25 % des Bruttoinlandsprodukts umfasste und in dem 40% der Industriearbeiter tätig waren.

Dieser Militarismus in den realen kommunistischen Staaten, der ein wesentlicher Faktor ihrer inneren und äußeren Macht darstellte, lässt sich heute noch in Nordkorea und in China beobachten. Vor allem aber stehen die Streitkräfte Russlands in direkter Nachfolge der Streitkräfte der Sowjetunion und auch in Russland gibt es eine Wehrpflicht, paramilitärische Organisationen, Wehrerziehung und einen großen staatlich kontrollierten Militärisch-Industriellen Komplex, der 2025 4,5 Millionen Beschäftigte und 20% aller Industriearbeitsplätze umfasst und 2023 7,5% des Bruttoinlandsprodukts ausmachte

Es ist nun bezeichnend, dass autoritär-kommunistische Gruppen, die sich auf den Marxismus-Leninismus und den realen Kommunismus der Sowjetunion
und der DDR beziehen, Demonstrationen gegen die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht veranstalten. Der Anlass zur geplanten Wiedereinsetzung ist ja gerade der russische Militarismus und Imperialismus, der direkt aus dem realkommunistischen sowjetischen Militarismus und Imperialismus
hervorgegangen ist. Die sowjetische und die DDR-Propaganda haben die Sowjetunion und die DDR selbstverständlich immer als Friedensstaaten
dargestellt, obwohl sie eben hochmilitarisiert und hochgerüstet waren.
Es gab in der sowjetischen und in der DDR-Propaganda sehr viele Friedenstauben und in der DDR wurde ständig wiederholt, dass sie ein Friedensstaat sei (darüber gibt es ein Lied der Lepziger Punkband L’Attentat), aber dazu gehörten auch die bewaffneten Organe und der ganze Militarismus, die Nationale Volksarmee (NVA) war natürlich auch eine Friedensarmee. Denn in der marxistisch-leninistischen Propaganda ging die Aggression und der Militarismus immer nur vom Imperialismus der USA, der NATO, der BRD und Israels aus, während die Sowjetunion und die DDR rein antifaschistische Staaten waren. Nach innen aber wurde der Militarismus repressiv durchgesetzt und eine unabhängige tatsächliche Friedensbewegung, die Abrüstung und »Schwerter zu Pflugscharen« forderte, wurde unterdrückt und verfolgt. Radio Corax wurde in Halle aus den Kreisen der antiautoritären linken Opposition gegen den
autoritär-kommunistischen Staat der DDR heraus, die sich 1989 als Vereinigte Linke zusammenschloss, heraus ins Leben gerufen. Die Demonstrationen der roten Gruppen stehen erkennbar in der Tradition des autoritären realen Kommunismus der DDR und der Sowjetunion und es ist leider ein weiterer Tiefpunkt der redaktionellen Arbeit der tagesaktuellen Redaktion von Corax nach dem Bericht über eine Anti-Kriegs-Demonstration des Solidaritätsnetzwerks und des Kommunistischen Aufbaus am 1. September in Halle, der in den Antifa-Nachrichten lief. Es mangelt in diesen Fällen leider an der gebotenen und selbst als Anspruch erklärten journalistischen Sorgfaltspflicht und der Umsetzung der eigenen journalistischen und medienpolitischen Grundsätze.

Foto: Radio Corax. Zu sehen sind die Fronttranspis beim Schulstreik gegen Wehrpflicht in Halle.